Wissenschaftler wissen es längst: Spielen im Dreck schützt vor Krankheiten.
Einer von vielen Gründen, warum die Premiere des Ibbenbürener Haselrodeos im September
des verrückten Corona-Jahres ein echter Höhepunkt war.
Sophie Leistner (Text) hat mit Judith Haselroth und Lutz Lindemann, den Machern der Spaß-Rallye, gesprochen.
Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, lautet ein afrikanisches Sprichwort. »Und es brauchte den ganzen Dickenberg, um eine Motorrad-Rallye an den Start zu bringen«, bringt Lutz Lindemann auf den Punkt, was das Haselrodeo so besonders macht. »Wir hatten wahnsinnig viele Helfer, ohne die das alles gar nicht möglich gewesen wäre.«
Ob bei der Streckenplanung oder beim Kuchenbacken: Viele begeisterte Helfer aus dem Freundeskreis und aus der Nach- barschaft brachten sich mit ein und machten aus dem ersten Haselrodeo sowas wie eine große Familien-Sause. Die Idee zur »Vintage-Rallye mit Spaß-Faktor« wurde beim Gentlemans Ride 2019 geboren. Was liegt näher? Schließlich ist Ibbenbüren bekannt für den Kohlebergbau und Sandstein, über den sich hartnäckig das Gerücht hält, aus ihm sei der Sockel der Freiheitsstatue gebaut.
Es folgte ein dreiviertel Jahr Planung. Die Vision: »Ein paar motorradbegeisterte Dorfkinder laden ihre Freunde ein, um ge- meinsam im Dreck zu spielen. Sie schnappen sich ihre alten Motorräder und fahren in die Steinbrüche. Abends etwas Mucke, der Grill wird angeschmissen und im Zelt geschlafen.« Also ein bisschen so wie früher, als die Welt voller Prilblumen und aus heutiger Sicht mehr denn je viel besser war.
Die enge Zusammenarbeit mit der Nachbarschaft und ein respektvoller Umgang mit Flora und Fauna lag Judith vom Bikerhof Haselroth (www.haselroth.de) und Lutz besonders am Herzen. »Eigentlich sind doch alle Motorradfahrer große Naturfreunde«, erklärt Judith, warum sich das Team viele Regeln selbst auferlegt hat. Das finden nicht nur die Freunde der motorradverrückten Familie Familie Haselroth gut: 2020 kürte das Stadtmarketing das Konzept zum »Haselrodeo« zu einem der Gewinner des Wettbewerbs »Deine Idee für Ibbenbüren«, der Projekte auszeichnet, die die Stadt noch attraktiver machen. Die Ehrung ist ein besonderer Ritterschlag für Judith und Lutz: »Wir haben Ibbenbüren beide mit Anfang 20 den Rücken gekehrt, weil hier einfach nix los war«, erinnert sich Lutz. »Und dann kamen wir zurück und sorgen seitdem selbst dafür, dass hier endlich was los ist.«
Und die Sache schien perfekt: Gutachten, Sanitäter und eine tolle Piste durch den nahen Steinbruch waren in trockenen Tüchern, die Helfer und Guides standen in den Startlöchern. Doch dann kam der Virus-Lockdown und die Premiere stand auf der Kippe. Aber bei Judith und Lutz ist das Glas immer halb voll, nicht halb leer. Und so blieben sie dran, holten sich Rat bei den zuständigen Behörden und schafften es tatsächlich, dass das Event nur verschoben wurde, aber Mitte September dann doch starten konnte. Wenn auch unter strengen Vorschriften und ohne Publikum.
Statt der ursprünglich geplanten 100 Teilnehmer durften schließlich nur 40 Glückliche zum gemeinschaftlichen Stromern durchs Gemüse antreten. Der reine Spaß am Fahren statt sportliches Gebolze stand von Anfang an im Fokus. »Deswegen haben wir klassische Motorräder, Reiseenduros und Mofas gegenüber modernen Sport-Bikes bevorzugt. Wir wollen keine Anfänger abschrecken, sondern Profis.« Die Teilnehmer, darunter zehn Damen, tobten sich nach Herzenslust in drei Steinbrüchen aus. Die Wege, auf denen wochentags die schweren Geräte eines Naturstein-Betriebs unterwegs sind, boten nach der Trockenheit einen staubig-spannenden Mix aus Asphalt, Schotter, Sand und Gras, es gab Steilhänge und eine kleine Crossstrecke. Und selbst die Schlammpassage fehlte nicht, sehr zur Freude der Fotografen.
Wahre Schätze grubberten sich durchs Geröll am zum »Dirtberg« umbenannten Dickenberg: Alte KTMs aus den 80er Jahren, alte XTs, BMW GS, LC4 erster Serie, TT350, BMW R45, Honda XR600, XT650, DR350 und auch eine Simson S51 beschwörten den Geist vergangener Tage herauf. Den wohl coolsten Auftritt legte V-Team-Chef Peter mit seiner 76er Shovelhead hin, der die Harley mit seiner ruhigen und besonnenen Art meisterlich durchs Gestein manövrierte. Bei so einem Fuhrpark braucht es nur noch einen Polaroid-Filter über den Fotos – und fertig ist die perfekte Vintage-Rallye. 40 Helfer auf Hof und Strecke brachten sich mit ein: Nachbarn brachten selbstgebackenen Kuchen vorbei, die Keilhauer Brauerei aus Ibbenbüren hatte 175 Liter des exklusiven Haselrodeo-Gerstensafts gebraut, die Schrauber-Community »Blech-Berserker« steuerte eigens gedängelte Pokale bei und leistete mit ihrem Service-Fahrzeug technische Erste Hilfe auf der Piste. Rettungssanitäterin Colle von »Erste Hilfe für Alltagshelden« kümmerte sich um das Wohlergehen der Fahrer und die Mannen von Motorrad Ibbenbüren stellten sicher, dass nur angemeldete Fahrzeuge, die leise und sauber sind, auf die Piste gingen. Um grobe Schnitzer kümmerte sich das V-Team aus Ibbenbüren mit Werkzeug und Schweißgerät.
Einstimmige Meinung der Teilnehmer: Das waren »die geilsten 53 Kilometer des Jahres!« Kein Wunder: Bestes Spätsommer-Wetter, positiv-verrückte Leute, alte Motorräder und ein großer Offroad-Spielplatz was gibt es Besseres, um in diesen Zeiten den Kopf frei zu bekommen? Gewinner waren am Ende alle, doch das Orga-Team kürte noch Sieger in ganz speziellen Kategorien. Da es sonst nur bei Bremshebeln, Fußrasten oder Spiegeln Verluste zu beklagen gab, sahnte Janine aus Gelsenkirchen den Titel als »größte Materialvernichterin« ab: Sie hatte sich an ihrer LC4 das Kettenrad abgerissen und war mit blockiertem Hinterrad liegengeblieben war. Den Titel »Dirtbike Dynamite« sicherten sich zwei Holländer, die »gefahren sind wie der Teufel, die überall mit angepackt und alle mit ihrer Partylaune angesteckt haben. Allerdings haben die beiden auch viel kaputt gemacht«, kichert Judith.
Das Benzin im Blut hat Judith übrigens von Vater Friedrich »Fitti« geerbt, der seit den 1950ern als Lizenzfahrer bei Bahn- rennen startete. Die Familie Haselroth reiste samt der drei kleinen Töchtern mit dem Motorrad durch ganz Europa. Judith wuchs auf dem ehemalige Bauernhof der Familie aus dem Jahre 1684 auf, wo die Eltern erst einen Motorradverleih und später ein Bekleidungsgeschäft betrieben, das samt Schneiderei heute im einstigen Kuhstall untergebracht ist. Als Judith 2016 nach Jahren des Studiums und der Selbstständigkeit im Ruhrpott in ihre Heimat zurückkehrte, stieg sie zusammen mit ihrem Neffen, GS-Fahrer Nils, in den elterlichen Betrieb ein. Sie hatte die Vision vom Bikertreff. Gesagt getan: In der renovierten ehemaligen Kutschenscheune findet seitdem in der Saison jeden Donnerstag der »Bikerabend« statt, der Motorradfahrer auf ihren Touren durch das Tecklenburger- und Münsterland nach Ibbenbüren lockt. »Der Bikerabend ist wie ein Treffen mit Freunden. Wir finden es schön, wenn es familiär und gemütlich zugeht«, sagt Judith. So wie beim Haselrodeo, bei dem der alte Bauernhof der Familie als Basecamp diente.
»An dem Wochenende sind wir gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen. Beim Beisammensitzen kam richtig Zeltlager-Stimmung auf«, erzählt die 48-Jährige ergriffen. Wir drücken ganz fest die Daumen, dass es 2021 eine erfolgreiche Fortsetzung gibt, wenn es heißt »Back to Dreck« am Dirtberg. Dann hoffentlich mit vielen Freunden und begeisterten Zaungästen.
Anmerkung von Judith und Lutz:
Alter Vatter! – danke für diesen tollen Artikel Sophie!
Hoffentlich schaffst du es im kommenden Jahr vorbeizukommen…Kids einfach mitbringen.
Am Dickenberg wird traditionell Dreck geliebt und angepackt. Seit dem 15. Jahrhundert wird hier Kohle abgebaut. Nachdem die oberflächlich erreichbaren Schichten weg waren, musste der Kopf angeschmissen werden, wie sich die Kohle tiefer erreichen lassen würde. Innovationen wie technische Geräte zur Belüftung, Entwässerung und zur Förderung wurden erfunden und gaben Menschen aus Ibbenbüren und aus allen Himmelsrichtungen Brot und Butter.
Heutzutage sind es hier nicht mehr tiefe Flözschichten oder Grundwassereinbrüche, die uns nachhaltig beschäftigen. Heute bereiten uns Kopfzerbrechen pseudotiefe Verschwörungserzählungen und Einbrüche von Rechtsaussen, die drohen unsere Gesellschaft und unsere Demokratie wegzuspülen.
Dazu Kriege in der Nachbarschaft und bei Freund*innen, die Folgen einer Pandemie und der Klimaerwärmung. Boah…
Aber was tut uns besser als frischer Wind im Gesicht und Dreck unter den Reifen? Im Dreck sind alle gleich. Das galt damals schon im Pütt und gilt genauso jetzt im Steinbruch.
Mit deiner Unterschrift unter den Haftungsausschluss erklärst du dich damit einverstanden, dass die Haselrodeo Rallye keinerlei Platz bietet für rechtes Gedankengut, rechte Symbolik und rechte Sprüche und genauso wenig für Sexismus, Antisemitismus und Klimawandelleugnung.
No Nazis – NoAfD – Nie wieder ist jetzt
Wir stehen ein für eine offene Gesellschaft, für Freiheit und Gleichberechtigung.
Es geht darum gemeinsam Spaß zu haben, uns auszupowern und zu connecten und dabei unser aller Akku mit Power und Liebe aufzuladen – unabhängig von der Herkunft, dem Geschlecht, der sexuellen Orientierung und der Fähigkeiten.
Wir als Haselrodeo Familie stecken ob der schwierigen Zeiten den Kopf nicht in den Sand, sondern die Reifen in den Dreck.
Kommste mit?
Mehr Liebe für alle von Judith & Lutz!